Sonomania

-II-


"Die Töne der Extremen."


Durch allerhand fremdartige Gerätschaften striff er, mit dreibeinigem Gang seines Kolbengehstocks. Normalerweise herrschte an diesem Ort keine Stille, die das leise Dampfen seiner Gehhilfe nebst dem gleichmäßigen Takt strenger Stiefelsohlen zum bedeutendsten aller Laute machte. Doch der kahlköpfige Mann in dem schwarz-lilanen Ornat mit reichlich kryptischen Insignien auf seinen getragenen Stolen wusste, den rechten Moment abzupassen. Jetzt würde sie in der Vorbereitung sein und nur, wenn das der Fall sein mochte, hatte es überhaupt einen Zweck in dieses völlig andere Reich einzudringen.


Es ist eine der wenige Welten, in denen er sich hier nicht wohlfühlte. Ein absonderlicher Parasit in der geschlagenen Wunde der Wissenschaft, der irgendwann das Fleisch zum widerlichen Eitern bringen würde. Dann wird er unterbinden müssen, was hier geschieht, doch bis dahin wurde die Existenz durch einen Chor von Stimmen getragen. Mit absoluter Sicherheit konnte er behaupten, dass die singenden Knaben noch nie hier waren.


Brennender Geruch chemischer Reinigungsmittel hing in unangenehmer Mischung mit Schweiß und verzweifeltem Lufterfrischer genau auf Riechhöhe. Angewidert rümpfte sich seine Nase und eine diagonale Narbe verzog sich dabei hart. In der Ferne des langgezogenen Saals erhob sich eine beleuchtete Bühne, doch statt Zuschauern davor standen hier bloß Maschinen, deren Absicht sich dem Besucher nicht erschloss. Verschiedenartige, große Instrumente ganz ohne Saiten.
'Folterinstrumente'.


"Mania, die Leere grüßt Euch." Die Stimme wurde noch auf Kehlenhöhe durch einen implantierten Mikroverstärker laut geregelt. Diese Akustik. Der Saal ist durch Diagonalen in einer hohen Decke und gewellte Seitenwände für laute Klänge hergerichtet. Kein Widerhall, das Verklingen in einem großen Resonanzkörper. Die geschickte Schallgeometrie war bewundernswert. Immerhin etwas.


"Und ich bringe das Licht hinein, Hermetikon. Ganz wie vermutet, ich hatte mich schon gefragt, wann Ihr neugierig würdet, Euch selbst zu überzeugen." Ihre Stimme war überraschend kratzig für jemanden ihres Handwerks. Vermutlich nutzte sie sie nicht oft, um zu kommunizieren, wenn es doch andere Wege gab. Weit komfortablere, direktere, effizientere - und doch wollte man hin und wieder die gesprochenen Silben nutzen, um dem Pathos der Situation gerecht zu werden. Kompilierte Sprache war intimer.


Ihre Gestalt auf der Bühne stand vor etwas, das er als hyperkomplexes Mischpult erkennen konnte. Im Halbkreis um sie angeordnet, überladen mit Schiebereglern, Knöpfen, Tasten und Dampfventilen, angeschlossen an eine Myriade dünner Kabel, die sich wie ein Fluss gebündelt an der Seite der Bühne herunter schlängelten und an ihre 'Zuschauer', die Instrumente, angeschlossen waren. Selbst für sie war es zu viel. Sie hatte gesichtslose Helfer links und rechts, die beide an dieser einen abnormen Kontrollstation standen.


Langsam stieg er mit einem sich beschwerenden linken Bein die wenigen Treppenstufen zur Bühne hinauf. In einer Millisekunde setzte Schmerz ein, dann war er wieder verschwunden. Ah, die Wunder der Biotech. Er wollte gar nicht in die direkte Nähe dieser Verrückten. Noch nicht. Zuerst nutzte er den hohen Observationspunkt aus, um einen Blick über all die Geräte zu werfen.


Bei ihren Göttern.


Die meisten von ihnen lagen im Dunkel deaktivierter Deckenbeleuchtung. Doch jene näher an der Bühne, die von dem dort herrschenden, abgedämpft grünen Licht beschienen wurden, waren grauenhaft. Mehrere umfunktionierte Bactatanks, gefüllt mit Flüssigkeiten ... und nackten Menschen. Nebst Beatmern waren ihre Augen in dem klaren, namenlosen Nass offen und ihre Körper mit mehreren über die Haut verteilten Elektroden mit dem Mischpult über Leitungen verbunden. In dem Flügel rechts von ihnen konnte er irgendwo Bewegungen in der Dunkelheit ausmachen. Etwas -kroch- oder -räkelte- sich dort. Links schlossen Isolationsenergiezellen an, in denen Menschen mit Lumpen saßen, die mit von ihren Körpern ausgehenden Drähten an aufgesetzte, elektronische Brillen gekoppelt waren.


Die anfängliche Abscheu verkroch sich in der gefährlichen Höhle ekliger Neugier. Auch wenn kybernetische Kolben seinen Mundwinkeln dazu verhalfen missachtend zu fallen, war da dieser Bann des Zwecks und der Resultate. Er wollte mehr wissen.


"Mein Besuch wird hoffentlich nicht mit inquisitiver Intention verwechselt. Ihr wisst, ich sah das alles hier seit der recht jungen Ratifizierung Eurer Initiative noch nicht mit eigenen Sinnen."


"Also ist es Neugier? Völlig verständlich, die Ku-", begann sie kratzig und wurde rasch durch ein Gegenwort abgewürgt.
"Zweifel", verkündete der Priester, der sich kaum eingestehen wollte, wie gut er sich in dieses Bild eigentlich einfügte.
"Zweifel? Hermetikon, elaboriert das bitte." Ihre Augen, oder das, was sie ersetzte, richteten sich auf die vom Stock gestützte Klerikergestalt. Es sah nach großen, eulenhaften Linsen aus, die zweidimensionale Spiralringe abbildeten. Zu allem Überfluss drehten sie sich auch noch. Spielerei.
"An Eurer Methodologie. Wenn ich sehe, womit Ihr forscht, Mania, kommen Zweifel über die Einhaltung der Standards auf."
"Ich versichere Euch, die Resultate sprechen für sich. Mit ihrer Hilfe erschaffen wir Kunst, die den schmerzlichen Prozess ihrer Entstehung mit der Erhabenheit beflügelnder Klänge amplifiziert. Was wir tun, streichelt die Seele derer, die nicht wissen wie wir es tun."
"Zeigt es mir."


Schwarze Schminke von geschwungenen Lippenbögen formte ein verschlagenes Schmunzeln. Die Spiralen ihrer Augen begannen sich hochfrequent zu drehen, sie striff sich die Kapuze herunter und ließ das leuchtende, hellblaue Haar frei. Kahlrasierte Schädelseiten ließen bloß kunstvoll geschwungene Lettern im Musterschnitt zurück, 'Dur' und 'Moll'. Die Hingabe dieser Fanatiker ist inspirierend.


Turbinen begannen sich irgendwo leise zu drehen. Elektrische Spannung stieg, Lampen auf dem gigantischen Mischpult sprangen an, erloschen, blinkten. Mania war längst mit diesem Herzstück des Saals verbunden. Ihre Zerebralimplantate interagierten auf sonderbar intuitive Weise mit der Technik; es waren keine Rohdaten, sondern Töne. Musik, die sie interpretierte.


Die Melodie, die nun erklang, war fein abgestimmt. Anfänglich eröffnete ein digitales Streichorchester mit sanften Klängen ein klassisches Stück. Zeitgleich bot sich selbst dem Auge etwas - Denn in einer der hinteren Sektionen des Saals gingen gelbwarme Lichter an, die Betten beleuchteten. Darauf lagen schlafende Personen, verdrahtet; und unfreiwillige Musikanten in der entstehenden Symphonie. Der Datenfluss war unsichtbar, doch sein Effekt hörbar. Verträumte Töne mengten sich anbei, ließen das Stück merkwürdig schwammig und betäubt erklingen und gierten nicht damit, diese Wirkung bei seinen Zuhörern verursachen zu wollen - wären sie denn empfänglich.


Dieses streichelnd zarte Pianissimo schien von einem Crescendo abgelöst zu werden, das die Schläfer wieder jüngst in Dunkelheit tauchte. Stattdessen erhellte sich ein anderer Part des Saals, der nicht weniger als in rotes Licht getaucht einen nackten Mannes- und Frauenkörper zeigte. Ihre kurvige Figur lag blank unter ihm, dem besteigenden Mann zugewandt und dessen Lippen mit den eigenen vereinnahmt, derweil ihre Leiber sich wie zarte und enge Neuronen in das Gefüge des gigantischen Emotionsnetzwerks mittels weiteren Kabeln einfügten. Was sie spürten, Lust, Gier und die konstant steigende Erregung ging perverserweise direkt in die Musik über. Sie wurde zunehmend lauter, stärker, berauschender und trachtete nach nicht weniger als spürbarer Hitze, bereichert durch harte Perkussionsschläge und elektronische Klänge feuriger Saiten.


Seine Mundwinkel sanken noch tiefer, denn diese entartete Perversion entging ihm nicht. Für einen Moment wandte er das Gesicht von den verschwitzten Körpern ab, um die drei Mantiker zu beobachten - Taten sie es für sich? All das für sich? Sie schienen gefangen, erkannte er tatsächlich Schweiß auf ihrer Stirn? Splitter der Beherrschung flogen in Form aufkommender dissonanter Töne mitten während des Crescendos und seine Aurikularsensibilatoren mussten spitze Frequenzen filtern, die gereichten, schwache Trommelfelle zu zerfetzen.


Es wurde schlimmer. Mania beugte sich über das Pult, rang mit sich und dem, was ihr Verstand verarbeiten musste, die Überreizung und Flut, schob manisch Regler und drückte Knöpfe, während sie sich unweigerlich auf ein Fortississimo hinspielte. Die Szene der Liebhaber verklang, gereichte dem brutalen Takt der Musik einfach nicht mehr und in ihrer seltsamen Synästhesie aktivierte sie Stroboskoplicht über dem mittleren Part des Saals, der die Bactatanks zeigte. Abgehackte Szenen von sich verkrampfenden Körpern, zugekniffenen Lidern, zappelnden und teils gegen das Glas schlagenden Fäusten. Kopfgeschüttel, Schmerz, Pein, aufsteigende Bläschen einer erhitzenden Flüssigkeit, Elektroschocks, Hitze, schneller Takt, Wut, mehr mehr mehr, lauter, ausgefallener, es wurde immer disharmonischer, dissonanter, verkrampfter, die Melodie war zerstört.


Ab dem Punkt war ihm bewusst, was das hier war.


Erst, als ein Bactatank aufplatzte und sein Glas zerschlagen wurde, verklang das Musikexperiment schlaghaft. Mania atmete beschleunigt, abgestützt auf das Pult, derweil sich der Kleriker das Missgeschick von der Bühne aus ansah. Tot. Verdrahtet, halb in dem Spinnennetz der unzähligen dünnen Messleitungen gefangen, als versuche der Tank ihn sich wieder einzuverleiben, nunmehr als Sarg.


"Wie schade.", kommentierte er zunächst, denn nun herrschte wieder die unpassende Stille seiner Ankunft. "Der Anfang überzeugte mich."
"He-Hermetikon ... bitte.", keuchte die leitende Musikerin auf, "Ich weiß Ihr seid nicht begeistert von dieser Initiative.. Aber unsere Symphonien.. sind unbestreitbar erfolgreich."
"Dann beweist es mir in Zukunft mit Euren Erzeugnissen. Zeigt mir die Stücke, die Ihr komponiert und ich finde vielleicht einen Platz für sie. Doch diesen abartigen Tönen der reinen Eskalation werden die Kosten nicht gerecht."
"Es sind .. Die Töne der Extremen. Emotionen.. eingefangen in Noten und kompiliert in Melodien, die nicht weniger als .. mitreißen sollen. Manipulieren.. Inspirieren... Ich brauche nur mehr ... Emotionssamples.."
"Dann sorgt dafür, Mania. Ich habe genug gesehen und ungenügend viel gehört."


Leises Zischen seines Gehstocks, denn er ging. Tockend die Treppe herunter, vorbei an zersplittertem Glas und nassem Boden.
"Was werdet Ihr jetzt tun?", rief ihm die unverkennbar raukratzige Stimme hinterher.


"Ich werde mit EQ reden."